Farbe Orange ist die Farbe der Trauer

Bunt und laut ist der "Dia de los Muertos" in Mexiko. Mehrere Tage lang begegnen die Lebenden den Toten, sie essen und tanzen zusammen. Es entsteht ein Raum für wahre Begegnung. Die Lebenden tauschen sich aus über den Tod und die Hoffnung auf Auferstehung.
Das Jahr 2016 steht im Zeichen der deutsch-mexikanischen Partnerschaft. Die vielfältigen Beziehungen und Kooperationen zwischen beiden Ländern haben eine lange Geschichte. Die Faszination vieler Deutscher für Mexiko ist durch die Reise von Alexander von Humboldt 1803/1804 und seinen Bericht darüber entflammt. Und sie hält seitdem an. In der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges war das Land als Exil für viele Menschen die Rettung. Nicht alle blieben dauerhaft. Aber es wird geschätzt, dass heute etwa 200.000 Menschen mit deutschen Wurzeln in Mexiko leben. Eine von ihnen ist Helena Brandl. Ich treffe sie in der deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde in Mexiko-Stadt.

Helena Brandl: "Ich bin geboren in Mexiko-Stadt. Ich bin in die deutsche Schule gegangen. Nach dem Abitur bin ich nach Deutschland gegangen zum Studieren. Wir waren dann in Berlin, haben dort eine wunderbare Gemeinde kennengelernt. Wir sind dort aufgenommen worden. Es wurde Teil unserer Familie, diese Gemeinde. Unsere Kinder hatten plötzlich 20,30 Omas, die sich um sie gekümmert haben."
Nach mehreren Jahrzehnen in Deutschland ist Helena Brandl 2006 mit ihrem Mann wieder nach Mexiko-Stadt zurückgekommen. Die Stadt ihrer Kindheit und Jugend ist zugleich die größte Stadt des Landes – und eine der größten Städte der Welt. Über 25 Millionen Menschen leben hier. Die deutschsprachige Evangelische Gemeinde liegt mitten in dieser Stadt. Pfarrer Marc Reusch ist ihr Gemeindepfarrer. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat ihn für sechs Jahre nach Mexiko gesandt.
Die Gemeinde in Mexiko-City
Marc Reusch: "Ich bin eigentlich von der Herkunft her Pfälzer Pfarrer, war aber schon einmal sieben Jahre lang Auslandspfarrer in Kolumbien, in Bogotá. Damals für das Land in sehr schwierigen Zeiten. Aber ich habe ohnehin meine Liebe in Lateinamerika verloren. Denn meine Frau stammt aus Bolivien. Und insofern war Lateinamerika für uns immer naheliegend. Jetzt sind es drei Jahre. Also die Hälfte meines Vertrages habe ich hier in Mexiko erfüllt."
Rund 750 Gemeindeglieder zählen zur deutschsprachigen Gemeinde in Mexiko-City. Das ist für deutsche Verhältnisse natürlich relativ klein und überschaubar. Unter den Auslandsgemeinden, vor allem in Lateinamerika, zählt sie zu den größeren. In dem katholisch geprägten Land gehören Familien zur evangelischen Gemeinde, die für die deutsche Botschaft oder deutsche Firmen auf Zeit im Land sind. Auch Österreicher und Schweizer kommen dazu. Und natürlich zählen sich Menschen zur Gemeinde, die deutsche Vorfahren haben und in Mexiko aufgewachsen sind, wie Helena Brandl. Für den Pfarrer heißt das, flexibel zu sein.
Marc Reusch: "Zu meiner Arbeit hier gehören sehr viele Reisen. Denn wir haben im letzten Jahr an neun Orten außerhalb von Mexiko-Stadt noch Gottesdienst gefeiert. Das geht von Monterrey im Norden der Universitätsstadt bis zur Kaffeeanbauzone fast in Guatemala. Trauungen und Taufen finden sehr häufig nicht in Mexiko-Stadt und in unserer Kirche statt, sondern an anderen Orten. Auf Ex-Haciendas, in kleinen Kapellen. Also das Reisen gehört hier sehr stark zu meiner Tätigkeit dazu."
Unterwegs im Land
Wenn Pfarrer Marc Reusch landauf landab unterwegs ist, erfährt er viel von der Kultur und von den Menschen. Dann werden ihm besonders auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mexiko und Deutschland bewusst, auch im Umgang mit dem Tod.
Marc Reusch: "Wir haben 2003 hier in der Gemeinde auf dem Gelände der Kirche ein Kolumbarium gebaut, eine in Mexiko sehr übliche Bestattungsweise. Das heißt, die Menschen werden kremiert. Die Urne wird in einer Urnenwand, in einer Nische, beigesetzt. Wir haben aber auch einen deutschen Friedhof in Mexiko, wo Erdbestattungen ganz ähnlich dem Ritual in Deutschland stattfinden. Insofern sind die Beisetzungsformen auch bei mexikanischen Familien in Mexiko nicht unbedingt so verschieden. Verschieden ist, was danach kommt und wie man die Toten präsent behält im eigenen Leben."
Heute feiern wir in Deutschland den Totensonntag. Im kirchlichen Kalender wird er auch Ewigkeitssonntag genannt. So wird daran erinnert: Unser endliches Leben ist umfangen von Gottes Ewigkeit. Die Toten, von denen wir Abschied nehmen mussten, sind in Gottes Hand geborgen. In den Gottesdiensten heute werden die Namen derer verlesen, die im vergangenen Jahr gestorben sind. "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein, spricht der Herr", heißt es beim Propheten Jesaja. In den Gottesdiensten und Andachten wird oft für jeden Verstorbenen eine Kerze angezündet. Viele Menschen besuchen dann die Gräber ihrer Lieben. Doch wer heute nicht in die Kirche und nicht auf einen Friedhof geht, kommt mit dem Totengedenken kaum in Berührung.
Das Totengedenken - eine große öffentliche Sache
In Mexiko sieht das ganz anders aus. Da ist das Totengedenken eine große öffentliche Sache. Vom 31. Oktober bis Allerseelen am 2. November feiern die Mexikaner den Día de los muertos, den "Tag der Toten". Ein buntes und fröhliches Volksfest über mehrere Tage. Seit 2008 gehört das Brauchtum um den "Tag der Toten" im November zum sogenannten immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Geht das, habe ich mich gefragt: Fröhlich an die Verstorbenen zu denken? Zu feiern und sogar zu tanzen? Für die Mexikaner gehört das zusammen.
Der Verkehrsstau gehört ebenso zu Mexico-City wie das Hupen, der Lärm und der Smog. Das Café "La Catrina", an einer vierspurigen Straße gelegen, fällt sofort ins Auge. Vor dem Café stehen zwei Skelette aus Kunststoff in Originalgröße. Eingekleidet in Frack und langem Kleid sehen sie aus wie zwei vornehme Gäste des Cafés. Nichts Ungewöhnliches hier in Mexiko. Und am "Tag der Toten" noch viel weniger. Das Café lockt mit verführerischem Duft nach Gebackenen und bunten Obsttörtchen. Aber nicht diese interessieren die Mexikaner jetzt, sondern sie kaufen das sogenannte Totenbrot aus Hefeteig, das es süß und salzig gibt. Auch Miniaturgrabstätten und Totenschädel aus Zuckerguss werden angeboten. Mexikaner verschenken die Totenschädel mit den Namen von Freunden. Die Deutsch-Mexikanerin Helena Brandl kennt das gut.
Helena Brandl: "Also, was mich hier immer beeindruckt, ist, dass die Mexikaner keine Kontaktängste haben mit dem Tod. Der Tod gehört eigentlich zum Alltag, ist allgegenwärtig. Nicht, dass man sich den Tod ersehnt. Man lacht sogar über den Tod. Es gibt eine Karikatur, eine Figur, La Catrina, das ist ein Gerippe mit einem großen Hut. Und das ist eine Frau, die einfach mitten in der Gesellschaft eigentlich lebt."
Die christliche Tradition in Kombination mit dem Erbe der Azteken und Maya
In Mexiko verbindet sich die christliche Tradition mit der Tradition der Azteken und Maya, die das Land geprägt haben, lange bevor die Spanier nach Mittelamerika kamen. Die Menschen in den alten, indigenen Kulturen stellten sich vor, dass die Geister der Verstorbenen am Tag der Toten ihre Familie und geliebte Menschen besuchen kommen. Sie waren überzeugt, die Seele stirbt nicht, sondern verweilt im Jenseits. Und dann kehrt sie einmal im Jahr zurück. Nach dem Kalender der Azteken fiel dieser Tag in den Zeitraum zwischen Ende Juli und Anfang August, wurde aber durch die christlichen Priester der Conquista während des 16. und 17. Jahrhunderts auf Allerheiligen verschoben.
Die Verschmelzung aztekischer und christlicher Traditionen führte dazu, dass die Mexikaner den Tag der Toten während der ersten beiden Tage im November feiern; und schließlich entstand die heutige Form eines der wichtigsten Feste in Mexiko.
Der Tod war nicht das Ende und das Leben lediglich eine Durchgangsstation zwischen verschiedenen Daseinsformen. Und so ist auch heute in Mexiko die Erinnerung an den Tod und an die Toten bunt und laut. denn die Überzeugung der Mexikaner hat sich nicht verändert: die Toten kommen einmal im Jahr zum Ende der Erntezeit wieder. Sie feiern dann gemeinsam mit den Lebenden mit Musik, Tanz und gutem Essen.
Helena Brandl: "Sie sind dabei. Sie sind da. Sie feiern mit. Das heißt, man baut einen Altar für sie auf mit den Gaben, mit den Dingen, die sie zu Lebzeiten geliebt haben, geschätzt haben, mit dem Essen, was sie gern gegessen haben. Das alles wird auf diesen Altar gestellt. Die Toten kommen und essen von dem Mole oder den Chilaquiles, die sie gern gegessen haben damals. Die stehen da und lassen sich‘s schmecken."
Die Familien feiern mit allem was dazu gehört, nicht nur mit Essen und, Musik, auch mit Tequila und Zigarren. Mariachi-Bands spielen auf, auch auf den Friedhöfen.
Auf den Straßen herrscht buntes Treiben. Wohnungen und Friedhöfe werden prachtvoll mit Blumen, Kerzen und bunten Todessymbolen aller Art dekoriert. An den Eingangspforten der Häuser werden Laternen aufgehängt. Die leuchtend orangefarbenen Flores de Muertos – die "Blumen der Toten" – werden zusammen mit Ringelblumen und gelben Chrysanthemen als Empfangsteppich und Wegweiser für die Verstorbenen vom Haus bis zum Friedhof ausgelegt. Man glaubt, dass Verstorbene die Farben Orange und Gelb am besten erkennen können. Nicht nur auf den Friedhöfen, sondern auch in den Wohnungen und auf den Straßen stehen am "Tag der Toten" Altäre. Auf den Altären werden dann Fotos der Verstorbenen aufgestellt, Kerzen und Weihrauch angezündet und die Lieblingsspeisen der Verstorbenen angerichtet.
Skelette in allen mögliichen Alltagssituationen
Marc Reusch: "Also ich habe schon den Eindruck, dass für die Familien, in denen das Ritual als Herzensangelegenheit begangen wird, der Umgang mit dem Toten und die Erinnerung daran ein Stück leichter sind, weil sie das Gefühl haben, sie haben ihn zumindest einmal im Jahr ganz präsent. Sie können ins Gespräch eintreten, sie können etwas Gutes für ihn tun. Es ist sein Tag. Es schaut sie auch niemand komisch an, wenn sie diesen Tag ganz dem Toten widmen. Und man kann über den Tod reden."
Überall in der Stadt, auf den Plätzen, In den Straßen und Geschäften werden Skelette in allen möglichen Alltagssituationen dargestellt, beim Einkaufen, im Bett, selbst ein Arztbesuch wird nachgebildet.
Marc Reusch: "Wir in Deutschland haben ja oft die Tendenz, den Tod eher aus dem Leben herauszudrängen. Hier ist es so, dass der Tod etwas Öffentliches ist. Denn die Altäre werden ja nicht nur in den Häusern aufgebaut, sondern in Schulen und auf öffentlichen Plätzen in Ministerien, im Postgebäude und so weiter. Es ist ganz präsent, der Tod als solches, man redet über ihn, und man spricht aber auch über die Toten, die schon gegangen sind. Man kann so seine Trauer ein Stück leichter mit anderen teilen und nicht ganz so schwer nehmen."
In Mexiko wird die Trauer oft in musikalischer Form ausgedrückt. In dem Klagelied "Cucurrucucú Paloma" ist von einem Menschen zu hören, der so untröstbar traurig ist, dass er nicht mehr leben will und sich aufgibt. Seine verletzte Seele wird zu einer Taube, deren Gurren seine Klage wiedergibt. Täubchen, weine nicht mehr! Im Schmerz dieses Menschen wird auch der Schmerz der Hinterbliebenen fühlbar.
Bei uns in Deutschland wird der Ewigkeitssonntag jetzt im November gefeiert. Die kahlen Äste an den Bäumen, die Tage voller Nebel oder Regen, das wenige Sonnenlicht und der graue Himmel – für viele Menschen passen Jahreszeit und Wetter zu ihrer Trauerstimmung. So unterschiedlich die Traditionen auch sind, so ähnlich ist doch die Hoffnung. Pfarrer Marc Reusch sieht aber durchaus Parallelen.
Marc Reusch: "Ich denke, das sind deutliche Parallelen in der Vorstellung, dass der Tote direkt aufersteht und zumindest einmal im Jahr in unserem Leben präsent sein wird. Da ist diese Hoffnung auf Auferstehung ganz stark präsent hier in Mexiko. Ähnlich, wie es bei den Herrnhutern mit den weißen Särgen deutlich gemacht wird. Hier ist alles noch etwas bunter, alles etwas greller. Die Farbe der Trauer in Mexiko ist Orange, nicht Schwarz, durch diese eben schon erwähnte Blume Cempasúchil, die alles beherrscht. Und die Altäre sind bunt. Es ist der Versuch sozusagen, den Tod nicht zu schwer zu nehmen, ihn ins Leben zu integrieren, die Toten selber ins Leben auch weiter zu integrieren und Teil des Lebens sein zu lassen und damit ein Stück auch mit dem Verlust besser umzugehen."
Hoffnung auf Auferstehung wird fröhlich gefeiert
Auch in den christlichen Kirchen gibt es zum Beispiel aus der Herrnhuter Brüdergemeine die Tradition, nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene und Hochbetagte in einem weißen Sarg zu beerdigen und auch die Hoffnung auf die Auferstehung als etwas Fröhliches zu feiern.
Für die meisten in Deutschland klingt es sehr fremd, das Gedenken an die Verstorbenen fröhlich zu begehen. Für diejenigen, der einen geliebten Menschen verloren hat, verändert sich oftmals das ganze Leben. Der Tod ordnet für die engsten Angehörigen die Welt neu. Sie suchen im ganz normalen Alltag ihren Verstorbenen, finden ihn in Gedanken und Gefühlen, in Worten, die er gesagt hat oder in Gewohnheiten, die ihm lieb waren. "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden." Das sind Jesu Worte aus der Bergpredigt. Und auch die biblische Zusage des himmlischen Jerusalems, in dem kein Leid und kein Schmerz mehr sein werden, weil das Erste vergangen ist und Neues begonnen hat, ist eine tröstliche Verheißung Gottes für die uns Vorausgegangenen.
Aber auch untereinander können wir uns begleiten und trösten, wenn wir auf diejenigen zugehen, die einen Angehörigen verloren haben. Vielleicht warten sie auf die Frage, wie es ihnen in diesen dunklen Tagen geht und würden gern erzählen, was sich in diesem Jahr für sie verändert hat. Manchmal braucht es dafür nur eine kleine Überwindung oder einen guten Impuls. Vielleicht ist es ein Gespräch über die ganz unterschiedlichen Traditionen, mit dem Tod und der Trauer umzugehen.
Und für diejenigen, die jetzt Interesse daran bekommen haben, zu sehen, wie der "Tag der Toten" in Mexiko gefeiert wird: Das ZDF überträgt heute um 9.30 Uhr den evangelischen Gottesdienst aus der deutschen Gemeinde in Mexiko-Stadt.
"Die redaktionelle und inhaltliche Verantwortung für diesen Beitrag liegt bei Pfarrer Reinhold Truß-Trautwein, Senderbeauftragter für Deutschlandradio, Rundfunkarbeit im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP), für den Medienbeauftragten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland."
(sru)
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